Staatskirchenrecht und Kirchenrecht – Zielgruppe
Weder das Kirchenrecht noch gar das Staatskirchenrecht sind ausschließlich etwas für kirchliche „Insider“. Die beiden Fächer sind rechtswissenschaftliche Teilgebiete, die jedem Juristen etwas zu bieten haben. Vorbedingungen hinsichtlich der persönlichen Einstellung zu Religion und Kirche gibt es nicht. Das Staatskirchenrecht und das Kirchenrecht könnte Sie interessieren, wenn eine der folgenden Aussagen auf Sie ungefähr zutrifft:
- Sie wollen ein „normaler Jurist“ sein und haben mit Religion und Kirche eigentlich noch nichts zu tun gehabt.
- Sie nehmen Anteil am kirchlichen Leben und wollen – als Jurist oder Theologe – näher über das kirchliche Handeln nachdenken.
- Sie haben Ihre eigenen religiösen, weltanschaulichen oder konfessionellen Ansichten, zu denen aber das geltende Staatskirchenrecht beziehungsweise das evangelische Kirchenrecht wahrscheinlich nicht paßt.
Ein ganz normaler Jurist?
Staatskirchenrecht: normales staatliches Recht.
- Ihnen liegt zunächst das Staatskirchenrecht nicht ferner als das Strafrecht, Polizeirecht oder Deliktsrecht. Staatskirchenrecht ist staatliches Recht, das in unserer Verfassung unter der Maxime der religiösen und weltanschaulichen Neutralität steht. Sein Kern ist die Religionsfreiheit, die unabhängig von religiösen Besonderheiten gilt und von allen Juristen erkannt und beachtet werden muß.
- Das Staatskirchenrecht ist eine Querschnittsmaterie für alle Bereiche der juristischen Berufspraxis.
- Es birgt bemerkenswerte Herausforderungen an die Wahrnehmung und den professionellen Umgang mit unterschiedlichen Vorverständnissen. Gerade in dieser Begegnung unterschiedlicher Vorverständnisse vom Staat und von der Religion liegt einer der Reize des Fachs. Die hierbei zu eröffnenden methodischen und rechtsdogmatischen Zugänge zur Bewältigung sozialer Konflikte sind essentiell für die Rechtskultur des säkularen, freiheitlichen Staates. Kein Jurist sollte meinen, ohne sie auskommen zu können.
- Siehe auch: „Wozu Staatskirchenrecht studieren? Antworten von Studierenden “ (veröffentlicht von Dr. Georg Neureither, Heidelberg).
Kirchenrecht für normale Juristen: klärt das Verständnis des säkularen Rechts
Einen Erkenntnisgewinn für die Reflexion des säkularen staatlichen Rechts können Sie darüber hinaus auch von der Kirchenrechtswissenschaft erwarten.
- Als Anwender des staatlichen Rechts müssen Sie die kirchlichen Freiheitsansprüche mit kollidierenden Freiheitsansprüchen zum Ausgleich bringen können. Dazu müssen Sie im gegebenen Fall das Kirchenrecht zur Kenntnis zu nehmen bereit sein, denn in ihm drückt sich der kirchliche Freiheitsanspruch aus. Ein staatlicher Richter, der im Konflikt das kirchliche Recht ignoriert, ignoriert den Anspruch, den die Kirche für ihr Handeln erhebt, und verletzt so Grundrechte.
- Für das Verständnis unserer säkularen Rechtskultur trägt die Kirchenrechtswissenschaft mittelbar einen theoretischen Erkenntnisgewinn und Bildungswert bei:
- Der Blick in die Kirchenrechtsgeschichte legt Ursprünge des säkularisierten, aber im Kern vielfach vom Kirchenrecht her befruchteten Rechtsdenkens frei. Beispiele bieten das Rechtsinstitut des „öffentlichen Amtes“, das Prozeßrecht und vieles andere mehr, bis hin zum Kapitalanlagerecht. Erkenntnisse über das Kirchenrecht dienen so der Erkenntnis der säkularen Rechtsbildung: Manches heute Selbstverständliche ist nicht „vom Himmel gefallen“, sondern hat seine Gründe, ist eine Kulturleistung und Rationalisierungsleistung, die ohne den spezifischen Antrieb des Kirchenrechts nicht möglich gewesen wäre.
- Das Kirchenrecht bildet einen fruchtbaren Gegenentwurf zum säkularen Recht. Der kirchenrechtswissenschaftliche Diskurs hat – im Unterschied zum Rechtsdiskurs über staatliches Recht – einen ausdrücklichen Bezugspunkt in den theologischen Grundlagen des kirchlichen Handelns, und damit im Bekenntnis, einer gerade nicht neutralen religiösen (konfessionellen) Position. Er reflektiert eine Rechtswelt, die ihr Legitimitätskriterium nicht offenhalten muß, sondern bereit ist, das menschliche Handeln auch in seiner Rechtsform in den Kontext der „letzten“ Kriterien für ein „gutes Leben“ zu stellen.
- An der Differenz zum bekenntnisgeprägten Kirchenrecht werden Grundbedingungen des säkularen Rechts deutlich. Indem die Kirchenrechtswissenschaft das Kontrastmodell eines auf die Verheißung des Glaubens gegründeten Rechtshandelns durchführt, erinnert sie die säkularisierte Rechtswissenschaft an die Bedingtheit ihrer eigenen Prämissen, die eben nicht mehr auf eine Glaubensverheißung verweisen können.
- Die Kirchenrechtswissenschaft ist ein Muster für eine interdisziplinäre Orientierung der Rechtswissenschaft. Ihr Kontakt zur Theologie kann der Rechtswissenschaft insgesamt Impulse geben für deren interdisziplinäre Beziehungen, in denen sie Anschluß sucht an sinndeutende und legitimitätsbezogene Wissenschaften wie die Philosophie, Soziologie, Politologie etc.
Ein kirchlicher Insider?
Sie nehmen Anteil am kirchlichen Leben und wollen – als Jurist oder Theologe – näher über das kirchliche Handeln nachdenken?
- Sie können sich die Sache der Kirchenrechtswissenschaft zur eigenen Sache machen. Als Kirchenrechtswissenschaftler reflektieren Sie die Kirchenrechtspraxis rational. Sie bemühen sich dabei auch um Kriterien für die Legitimität der rechtlichen Bindung kirchlichen Handelns. An ihnen können Sie Urteilsmaßstäbe für die Gestaltung kirchlichen Rechts sowie für seine Auslegung und Anwendung entwickeln, prüfen und am konkreten Rechtsproblem bewähren.
- So wie wie die Rechtswissenschaft allgemein dem Juristen eine besondere Perspektive auf das Zusammenleben in der Gesellschaft erschließt, so erschließen Sie sich mit der Kirchenrechtswissenschaft eine besondere Perspektive auf das kirchliche Leben.
- Zugleich bereiten Sie sich auf einen der zahlreichen juristischen Berufe im kirchlichen Dienst (siehe unten) vor.
Mit der Kirche eher nichts am Hut?
Sie haben Ihre eigenen religiösen, weltanschaulichen oder konfessionellen Ansichten, zu denen aber das geltende Staatskirchenrecht beziehungsweise das evangelische Kirchenrecht wahrscheinlich nicht paßt?
- Die Beschäftigung mit dem Staatskirchenrecht und Kirchenrecht führt Sie in einen Dialog der Vorverständnisse, der sowohl in der säkularen als auch in der kirchlichen Rechtskultur seinen Platz hat.
- Die säkulare Rechtskultur abstrahiert für die Verbindlichkeit des Rechts von den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Positionen der Rechtsgenossen. Diese Abstraktion gelingt nur über eine bewußte Wahrnehmung des eigenen Vorverständnisses. Die Wahrnehmung des eigenen Vorverständnisses erschließt sich am besten in der Auseinandersetzung mit fremden Vorverständnissen. Diese Auseinandersetzung bricht typischerweise besonders unmittelbar im Staatskirchenrecht auf, ähnlich – nur auf einer anderen Gesprächsebene – auch im Kirchenrecht.
- Die Kirchenrechtswissenschaft reflektiert das kirchliche Handeln in seiner Rechtsgestalt, und zwar rational und damit in einer jedem denkenden Menschen zugänglichen Weise. Sie ist auch für solche unter ihren Hörern verständlich, denen ihre theologischen Voraussetzungen fremd sind. Die Theologie ist rational und kommunikabel. Sie will Glaubensinhalte so zur Sprache bringen, daß der Verstand sie nachvollziehen kann. Unbeschadet dessen lehrt die Theologie durchaus, daß Glaube mehr ist als Theologie und etwas anderes als das Fürwahrhalten dogmatischer Sätze. Aber im Gespräch über religiöse, weltanschauliche und konfessionelle Grenzen hinweg können theologische Voraussetzungen des Kirchenrechts von jedermann zumindest als „Referat“ einer fremden Glaubenswirklichkeit gehört werden.
- In dieser Situation des „Zuhörers“ sind alle prinzipiell gleich. Schon wegen der konfessionellen Unterschiede insbesondere zwischen römisch-katholischen und evangelischen Christen befindet sich jeder von ihnen, sobald er sich vergleichend mit römisch-katholischem und evangelischem Kirchenrecht befaßt, teils in der Rolle des „Zuhörers“, teils in der des „Mitredenden“. Als Zuhörer geht es dem ganz Außenstehenden also nicht prinzipiell anders als jedem „Insider“.
- So ist die Kirchenrechtswissenschaft ein transkonfessionelles Gespräch für Sie, soweit Sie über Bekenntnisgrenzen hinweg vom „fremden“ Kirchenrecht Kenntnis nehmen. In der gleichen Weise ist sie Ihnen zugänglich, wenn Sie von einer eigenen konfessionellen Position ganz absehen. Das trifft zum Beispiel auf Sie zu, wenn Sie von sich sagen: „Ich bin nicht kirchlich.“ Herzlich willkommen!