Begrüßung der Erstsemester im Wintersemester 2005/2006
Mount Everest
Liebe Kommilitonen und Kommilitoninnen!
Zu Beginn des neuen Wintersemesters begrüße ich Sie ganz herzlich an unserer Fakultät. Wir freuen uns, dass Sie sich für uns entschieden haben und mit uns die Welt des Rechts entdecken wollen.
Viele von Ihnen werden zwiespältige Empfindungen hegen. Was kommt da auf mich zu? Werde ich es bis zum Staatsexamen schaffen? Was wird danach aus mir werden? Was soll ich hier überhaupt? Da geht es Ihnen nicht sehr viel anders als mir, als ich vor 24 Jahren in Erlangen in einem Hörsaal zur Begrüßung der Erstsemester saß. Auch ich hatte mich, wie wohl die meisten, nicht bewusst für das Jurastudium entschieden, sondern eher in einer Art Ausschlussverfahren: Ich wusste nur, was ich ganz bestimmt nicht studieren wollte. Und wenn mir jemand damals verheißen hätte, dass ich einmal auf der anderen Seite des Pultes stehen würde, ich hätte ihn ganz sicher für verrückt gehalten.
Ich glaube, etwas Respekt und Demut ist zu Beginn Ihres Studiums nicht schlecht. Schließlich wollen Sie auf den Gipfel, auf den Mount Everest. Und wenn man sieht, wie sich die Südwand 3.500 m hoch über dem Basislager erhebt, dann darf man ruhig ehrfürchtig sein. Aber keine Angst! Sie haben vier Jahre Zeit, und es steht Ihnen ein bewährtes Team von ausgezeichneten Bergführerinnen und Bergführern zur Verfügung – angefangen von unserer Organisationschefin Frau Dr. Schubert und dem Dekanat bis hin zu der Kollegin und den Kollegen, die sie in die einzelnen Rechtsgebiete einführen werden – nicht zu vergessen unseren Küchenchef in der Cafeteria im Juridicum. Wir werden gemeinsam mit Ihnen die Spalten des öffentlichen Rechts überschreiten, die steilen Klippen des Zivilrechts meistern und die Höhen der Strafrechtsdogmatik entdecken. Und das verspreche ich Ihnen: Im Gegensatz zur Todeszone am Mount Everest, wo jeder einsam auf sich gestellt ist, wir werden Sie nicht allein zurücklassen, wenn Sie einmal stürzen.
Bei der Gelegenheit weise ich auf die drei Säulen im Innenhof des Juridicums hin. Nach „herrschender Lehre“ – ein Ausdruck, dem Sie noch oft begegnen werden – sollen die drei Säulen die drei Gebiete Strafrecht, öffentliches Recht und Zivilrecht symbolisieren, wobei sich die Gelehrten noch darüber streiten, welches Fach wohl die höchste Säule für sich reklamieren kann. Nach meiner Meinung hat man damals aus Kostengründen vergessen, Griffe an den Säulen anzubringen. Unsere finanzielle Situation wäre nicht so prekär, wenn wir die Säulen für Freikletterwettbewerbe vermieten könnten.
Um so einen hohen Berg zu besteigen, braucht man einen Rucksack und vielerlei Ausrüstung. Freilich muss man auch wissen, wie man seine Ausrüstung zweckmäßig und sinnvoll einsetzt. Unser wichtigstes Utensil, gleichsam unser Bergseil, ist das Gesetz. Wir werden Sie lehren, wie man mit dem Gesetz arbeitet und was man alles damit „anstellen“ kann. Überhaupt glaube ich, dass es die spezifische Art und Weise ist, wie Juristen denken, die das Fach so spannend und Juristen für potentielle Arbeitgeber so interessant macht. Wir sind es gewohnt, einen Fall von verschiedenen Seiten zu bedenken und stets nach Lösungsalternativen zu suchen. Deshalb werden Juristen gern in Führungspositionen eingesetzt – weil sie in der Lage sind, mehrdimensional zu denken und verschiedene Ansätze in Betracht zu ziehen. Dazu habe ich einen alten Spottvers gefunden: „Der schönste Stand auf Erden ist der Juristenstand. Nur er kann etwas werden im deutschen Vaterland. Nur er erkennt die Wahrheit. Er ist darin geübt, weil seines Blickes Klarheit Fachwissen nicht getrübt.“ Allerdings möchte ich Ihnen nicht empfehlen, auf den Rat des Verfassers zu hören. Zum Schluss heißt es nämlich: „Doch will ich dir noch raten, darfst nicht zu fleißig sein. Sonst impfst du dir den Schaden zu vielen Wissens ein. Es ist allein gescheite in Deutschland ein Jurist, wenn in jurist´schen Dingen er auch nicht Fachmann ist.“
Wie auch immer: problemlösendes Denken, haben Sie das nicht auch in der Schule schon gehört? Damit verbunden ist eine Schwierigkeit, die Studienanfänger häufig haben. Recht funktioniert nicht nach dem Prinzip: 1 + 1 = 2. Denn ein anderer Lästerspruch lautet: „Drei Juristen, fünf Meinungen.“ Das heißt: Mag es auch die einzig richtige Lösung eines Falles geben, wir wissen sie nicht und keiner kann von sich behaupten, im Besitz der ewigen Wahrheit zu sein. Diese Erfahrung werden Sie in Ihren Lehrveranstaltungen häufig machen. Der Dozent sagt a, im Lehrbuch steht b und der Kollege plädiert für c, weil er die anderen Ansichten für abwegig hält. Für Sie bedeutet das: Sie müssen lernen, sich Ihren eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Sie dürfen Ihrem Hochschullehrer widersprechen, ja, wir bitten Sie sogar dringend darum. Am Anfang mag Sie das etwas überfordern, aber bedenken Sie: welche Freiheit? Sie sind nicht mehr in das enge Korsett eingebunden, das Ihnen andere vorgeben. Sie müssen nicht mehr Vorgekautes herunterwürgen, Sie dürfen selber essen und genießen! Werden Sie selbständig! Um eine bekannte Werbung aufzugreifen: Wir Professoren können sogar Hochdeutsch – aber Tragen können und wollen wir Sie nicht. Laufen und auf den Gipfel klettern müssen Sie schon selbst.
Wir bieten Ihnen also die Chance, Ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen. Auch auf den Mount Everest führen nicht nur die üblichen Anstiege über den Nordgrat oder über den Südsattel. Vielleicht fühlt sich die eine oder der andere von Ihnen herausgefordert, die Südwand zu erklimmen oder das Hornbein-Colouir zu durchsteigen. In diesem Sinne werden Sie bereits durch die neue Juristenausbildung aufgefordert, eigene Schwerpunkte in Ihrem Studium zu setzen. Mancher liebt Mord und Totschlag – der ist im Strafrecht richtig aufgehoben. Das soziale Gewissen kann im Arbeits- und Sozialrecht befriedigt werden. Die polyglotte künftige Diplomatin wird sich dem Völkerrecht hingeben usw.
Vielleicht möchten Sie, wenn Sie erst auf den Geschmack gekommen sind, einen Nachbargipfel wie den Lhotse mitnehmen. Wir bieten einen altbewährten Studiengang im Wirtschaftsrecht und eine neue Route Medizin – Ethik – Recht an. Vom breiten Angebot der Universität möchte ich gar nicht reden. So viele Gelegenheiten finden Sie später nicht mehr, wenn Sie wieder ins Flachland zurückgekehrt sind. Und so viel Zeit für Abstecher haben Sie dann auch nicht mehr. Nicht derjenige wird ein guter Jurist, der seine Nase Tag und Nacht nur in die Bücher steckt – unsere Bibliothek hat ja bis ein Uhr nachts geöffnet. Sondern Sie sollten die Universität dazu nutzen, zu reifen und sich selbst als Persönlichkeit zu bilden.
Auf den Mount Everest gelangt man besser im Team, nicht als Einzelgänger. Deshalb sollte auch Ihre bevorzugte Arbeitsumgebung die Lerngruppe sein. Mir persönlich ist kein Reinhold Messner des Rechts bekannt, der als Eremit in die höchsten Höhen der Erkenntnis vorgedrungen wäre. Recht hat etwas mit Recht haben und Recht bekommen zu tun – also mit Streiten. Und Streit ist Kommunikation. Recht ist ein kommunikatives Fach. Unser Medium ist die Sprache. Sie müssen lernen, sich präzise auszudrücken. Vor Gericht – aber auch schon viel früher im mündlichen Examen – müssen Sie auftreten und Ihr Argumentationsgeschick beweisen. Die zwei Stunden Rhetorik, die Sie als sogenannte „soft skills“ absolvieren müssen, genügen da sicher nicht. Und durch das sture Einpauken von Lösungen und herrschenden Auffassungen entwickelt man Argumentationskultur schon gleich gar nicht. Wo lernt man leichter das Streiten und wo macht es mehr Spaß, wenn nicht in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Auf diese Weise können Sie auch die Anonymität durchbrechen, die man dem Fach Jura als Massenstudium oft nachsagt. Ihre erste Hausaufgabe lautet: Bis Ende Oktober habe ich meine Arbeitsgruppe gefunden!
Zum Schluss wünsche ich Ihnen: Freude am Gesetz! Mit diesen Worten wurde ich vor 24 Jahren in Erlangen in der ersten Zivilrechtsvorlesung begrüßt, und ich möchte nicht verschweigen, dass ich damals etwas irritiert war. Nach einer Weile habe ich allerdings entdeckt, welche Weisheit sich dahinter verbirgt. Was man gern und leidenschaftlich tut, das fällt einem nicht so schwer. Jura ist nicht immer ein Zuckerschlecken, aber wenn Sie Freude am Gesetz entwickeln, wird Ihnen diese Freude über manche Durststrecke hinweghelfen. Und überhaupt: Jura ist doch ungeheuer spannend und überhaupt nicht trocken. Recht durchwirkt unser ganzes Leben. Selbst wenn Sie nachher auf der großen Freitreppe sitzen und eine Zeitung lesen, interessiert sich das Recht dafür. Niemand darf Sie daran hindern. Diese Tätigkeit gehört zu Ihrer grundrechtlich garantierten Freiheit – womit wir schon das erste gelernt haben: Es gibt keinen rechtsfreien Raum! Studieren heißt: mit Neugier und Eifer etwas Neues entdecken. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einmal: Freude am Gesetz!
Wenn Sie dann in vier oder fünf Jahren das Staatsexamen bestanden haben – und auf dem Gipfel stehen und auf die Welt des Rechts herunter blicken, dann kann ich Ihnen sagen: Die Aussicht ist einmalig. Dafür lohnt sich jede Mühe!
Prof. Dr. Joachim Renzikowski
Dekan
Mount Everest - Blick vom Gipfel